Vom 21. Oktober bis 22. November 2019 arbeitete ich ehrenamtlich für vier Wochen an der Nordküste von Lesbos im Bereich der Flüchtlingshilfe.
In meiner ersten Nacht in Griechenland war ich gleich Bestandteil des Teams, das sich im Transitcamp um die Menschen kümmert, welche die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland geschafft haben. Insgesamt kamen in dieser Nacht zwei Boote an. Diese Überfahrten verlaufen längst nicht immer problemlos und so ist es keine Seltenheit, dass die Menschen nass ankommen. Auf dem ersten Boot war ein Mann mit einer leichten Unterkühlung. Ich half ihm aus den nassen Klamotten, wickelte ihn in eine Decke und brachte ihm trockene Kleidung. Das war der Beginn meiner freiwilligen Arbeit dort, die Erfahrungen werden mich sicher nicht mehr loslassen.
Nachdem dann alle Menschen mit Sachen, etwas zu essen und Tee versorgt waren, ging es gegen 5 Uhr wieder zurück in meine Unterkunft. Auf dem Weg dorthin ging mir das Erlebte durch den Kopf. Ich dachte an einen 60 jährigen Mann, der trotz Herzerkrankung diese Reise auf sich nahm und nun in diesem Zwischenlager versuchte, zur Ruhe zu kommen. Zuhause angekommen, aß ich eine Schale Müsli und legte mich kurz hin, bevor der nächste Ruf kam, dass ein Boot kommt. Also ging es zurück und das Prozedere startete erneut. Insgesamt waren nun 96 Menschen in diesem Lager. Als sie am Nachmittag mit einem Bus der Hellenic Coast Guard abgeholt wurden, war das etwas verstörend. Ich muss sagen, dass das was ich jetzt erzähle ein Einzelfall war und ich in der Folge solche Szenen so nicht mehr erlebte. Es begann damit, dass der Busfahrer bevor die Menschen in den Bus stiegen, Gummihandschuhe und Mundschutz anlegte. Scheinbar war es kein Widerspruch für ihn, trotzdem die umherstreunenden Hunde und Katzen dort zu streicheln. Meine Aufgabe war den Menschen eine Flasche Wasser mit auf den Weg zu geben. Ich stand also neben der hinteren Eingangstür des Busses, gab ihnen Wasser und wünschte ihnen „Viel Glück“ (auf Farsi: Mo´afagh Bashed). Einige waren gehetzt, andere bedankten sich, lächelten und verabschiedeten sich. Aber wie gesagt es waren 96 Menschen. Der Bus hatte 47 Sitzplätze. Ich hätte mir im Leben nicht vorstellen können, dass alle dort hinein passen. Zumal auch viele große Plastiksäcke mit der gesamten Habe mit mussten. Der Busfahrer schrie und drückte die Menschen auf sehr grobe Weise hinein. Am Ende gelang es tatsächlich die Tür zu schließen. Ich blickte in die Gesichter der Menschen einige lächelten noch und grüßten, andere – besonders die Mütter – blickten sehr besorgt. Es war eine unwirkliche Situation. Ich und die anderen Volunteers winkten ihnen zu, aber im Gedanken war ich sehr zerrissen. Denn ich wusste, dass es für sie nach Moria* geht. Auch wenn ich es zu diesem Zeitpunkt nur von Bildern und Zeitungsartikeln kannte und es mehr eine Vorstellung denn ein klares Bild war, fühlte es sich seltsam an.
* Das größte Flüchtlingslager der Insel. Es trägt den Namen, der angrenzenden kleinen Ortschaft und befindet sich in unmittelbarer Nähe zu Mytilini, der größten Stadt auf Lesbos. Ursprünglich ausgelegt für 3000 Menschen leben heute zwischen 13 000 und 16 000 Menschen dort (Zahlen abweichend).
Wenige Tage später war der 28. Oktober, ein Tag mit einer doppelten Bedeutung. Zum einen ist es der griechische Nationalfeiertag, der an das „Nein“ zum Faschismus (1940) erinnert, welches zum Griechisch-italienischen Krieg führte und zum anderen gab es 2015 eine Tragödie an dieser Küste. Damals herrschte ein Sturm, was passiert ist konnte nie wirklich geklärt werden. Mitten in Nacht wurde Alle BootsbesitzerInnen – vor allem die Fischer – auf griechischer und türkischer Seite wurden von der Küstenwache um Hilfe gebeten, um Menschen zu retten. Niemand weiß wie viele Menschen in dieser Nacht bei dem Versuch, Griechenland zu erreichen, ertrunken sind. Schätzungen fangen bei 100 Menschen an. Ich war Zeuge einer bewegenden Rede, die deutlich machte, dass unsere Arbeit dort von den allermeisten geschätzt wird.
An einem freien Nachmittag hab ich die Insel ein wenig erkunden können und besuchte den Lifejacket Graveyard in der Nähe von Molyvos/Mithymna. Das ist eine Mischung aus Deponie und Mahnmal. Abertausende Rettungswesten und Objekte die diesen Namen gar nicht verdienen sind dort angehäuft. Geschätzt liegen dort allerdings „nur“ ein Fünftel der Westen die seit 2015 gesammelt wurden, d.h. zwischen 150 000 und 200 000. Ein Ort der sehr nachdenklich macht, denn jede Weste steht für einen Menschen, steht für ein Schicksal.
Aber zurück zu meinen Erlebnissen aus dem Transitcamp. Ich hab es jedes Mal sehr geschätzt, wenn ich nach meiner Arbeit dort bleiben konnte und Zeit mit den Menschen verbringen konnte. Mein Erzieherherz ist dort aufgeblüht. Denn die Arbeit mit Kindern ist meine Kernkompetenz. Die Sprache spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Denn trotz einiger Farsi-Kenntnisse braucht es zum Singen, Tanzen, Zeichnen oder Spielen lediglich das Selbstverständnis, dass es nichts Größeres gibt, als ein Kind zum Lächeln zu bringen. Ich habe mit ihnen Flugzeuge, Boote und Schmetterlinge gefaltet, deutsche Kinderlieder gesungen und Sport gemacht. Wenn es den Kindern gut geht, geht es auch den Erwachsenen gut. Vielleicht bin ich ein Erzieher/Clown… doch das ist egal! Hauptsache die Menschen haben ein paar gute Momente.
Ich war auch in Moria, um ein von einem anderen Volunteer organisiertes Clean-up zu unterstützen. Doch bevor es damit losging, sprach mich ein junger Mann an. Er fragte, ob ich seinen Freund ins Krankenhaus fahren könne. Seine Hand war geschwollen, abgebunden und dennoch sah man, dass sie blutig war. Ich habe ihn und seine zwei Freunde durch die ganze Stadt ins Krankenhaus gefahren. Anschließend fuhr ich zurück, um beim Müll sammeln im bzw. um dem Lager zu helfen. Es war der Wahnsinn. Die Menschen waren der Wahnsinn… ihre Energie. Und das ist gut so, denn auch der Müll dort ist Wahnsinn. Wir haben in 2 ½ Stunden 200 große und kleine Müllsäcke gefüllt und damit einen fast ausgetrockneten Kanal zwischen dem eingezäunten Lager und der Zeltstadt daneben vom gröbsten Müll befreit. Anschließend haben wir uns zusammen in einen Park gesetzt, Obst gegessen und getanzt. Ich tanze für gewöhnlich nicht, aber die Jungs hatten eine Energie, dass ich mich dem nicht entziehen konnte. Ich bin dankbar für die Erfahrung und die Menschen, die ich dort kennenlernen durfte. Sie inspirieren mich und spornen mich an!
Es kam des Öfteren vor, dass die Menschen im Transitlager mich fragten, wie das nächste Lager wird bzw. wie ich darüber denke. Das ist eine sehr schwere Frage. Also, was willst du sagen? Du willst niemanden belügen und du willst niemanden beunruhigen, denn eine Wahl haben sie jetzt nicht mehr. In der Regel kannte irgendwer jemanden aus dem Lager, sodass sie ahnten dass es nicht „schön“ wird. Ich erlebte es nur einmal, dass eine Gruppe wirklich keine Ahnung hatte. Nachdem ich lange überlegt habe und meine Mimik sicher schon eine Menge verriet sagte ich: „You are strong people and for Moria you have to be strong“. Ich hoffe, wenn sie sich an mich erinnern, denken sie nicht schlecht von mir.
Ein Mann meinte, dass es hoffentlich nicht so schlimm für die Kinder wird… Das hoffe ich auch – Inshallah!
„Ich bin stolz Deutscher zu sein“
Ein Satz der natürlich legitim ist, aber das fühle ich nicht und heute noch weniger als vor ein paar Monaten. Wie kann ich stolz sein auf Goethe oder Daimler? Mein Beitrag zu deren Werken und Errungenschaften ist nicht existent. Ich bin dankbar in einem Land wie Deutschland mit den Möglichkeiten und in Frieden aufgewachsen zu sein, aber stolz kann ich darauf nicht sein. Denn Herkunft ist kein Verdienst. Das germanische Wort „Volk“ meint einen Tross, der folgt. Germane wurde man nicht durch Geburt, sondern durch Verdienst… Ich war vierzehn Jahre lang absolut kein nützliches Mitglied dieser Gesellschaft. Zwar hatte ich in all den Jahren fast immer irgendwas – Schule, Studium oder Arbeit – gemacht, aber bis auf das Abitur hatte ich nichts abgeschlossen. Wahrscheinlich hatte ich sogar mehr Glück als Verstand, dass ich ohne Vorstrafen geblieben bin. Gleichzeitig hört man von arbeitenden bzw. zur Schule gehenden Menschen, die aufgrund eines abgelehnten Asylantrags abgeschoben werden sollen. Es scheint als wären nicht alle Menschen gleich.
Ich bin deutsch, das kann ich nicht leugnen. Ich denke auf Deutsch. Ich träume auf Deutsch und ich freue mich, wenn ich im Ausland jemanden treffe mit dem ich Deutsch reden kann und wenn es heißt eine Viertelstunde vor Schichtbeginn da sein, dann bin ich da.
Vielleicht bedeutet „stolz“ zu sein auch einfach nur, sich identifizieren zu können mit den
Leuten und/oder den hohen Damen und Herren?
Dieses Gefühl hatte ich in den letzten Jahren genau zweimal. Das erste Mal nach dem zugegeben überraschenden Beschluss aus der Kernenergie auszusteigen und das zweite Mal 2015 als Angela Merkel sagte: Wir schaffen das! Ich kann nur sehr selten etwas mit den politischen Entscheidungen der sogenannten Christdemokratie anfangen, aber dafür war ich dankbar. Es ist tragisch, was aus diesem Mut, dieser Überzeugung geworden ist.
„Auch wenn ein Deutscher nichts hat, Bedenken hat er“. [Kurt Tucholsky]
Nach dem zweiten Weltkrieg hat das ausgebombte, hungernde Land vierzehn Millionen Menschen aufgenommen, die auch damals keiner wollte. Heute sind wir reich und satt und tun uns mit einer Million an hilfesuchenden Menschen schwer.
In Gesprächen mit Menschen auf der Straße, z.B. bei (Info)Veranstaltungen der Seebrücke und sogar in sozialen Einrichtungen höre ich oft eine Mischung aus Futterneid und – so traurig es ist – Rassismus.
Ich glaube die Menschen sind oftmals sehr schlecht informiert…ein nicht zu unterschätzendes Problem in einer Demokratie. Der eine oder andere hatte vielleicht mal eine schlechte Erfahrung mit einem Immigranten oder aber sie hören Geschichten aus sogenannten alternativen Medien oder der BILD-Zeitung. Zweifellos spielt auch Angst eine Rolle und wie so oft sind Gefühle nicht rational. Nicht Migration, sondern soziale Ungerechtigkeiten und Ungleichverteilung von Vermögen sind das Problem, dass es Parteien ermöglicht, Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen und vorhandene rassistische Ressentiments anzufeuern.
„Freiheit ist immer Freiheit des Andersdenkenden“ vs. „Toleranz ist gut, aber nicht gegenüber den Intoleranten“ [Rosa Luxemburg vs. Wilhelm Busch]
Hier sind ein paar weitere Beispiele, wegen denen ich nicht stolz auf dieses Land sein kann:
- die unzulängliche juristische Aufarbeitung des Holocausts
- diese – für mich – unerträgliche Doppelmoral in der deutschen Außenpolitik: wenn z.B. Israel die Golan-Höhen besetzt oder Siedlungen baut…das ist sicher das heikelste Thema, deshalb ein anderes moderneres Beispiel: die Krimkrise (2014) und Einmarsch der Türkei in Kurdistan (2019)… Russland erhält „Sanktionen“, Türkei nicht
- die Gewissheit, dass der Iran Schuld ist an dem Anschlag auf saudische Ölfelder (August 2019)… wenn dieses Land sich ebenso verantwortlich fühlen würde für die Waffen im Wert von 6 Mrd Euro, die jedes Jahr exportiert werden!
Ich möchte nun den Bogen zu meinen Erfahrungen schließen: z.B. die Einstufung Afghanistans als sicheres Herkunftsland. Ich liebe die Berge und ich bin sicher, dass Afghanistan ein wunderschönes Land ist – trotzdem würde keiner, der bei Verstand ist, dort hinfliegen um Urlaub zu machen. Warum schließt sich hiermit der Kreis? Über 90% der Menschen, die an meiner Wirkungsstätte ankamen, waren Afghanen und Afghaninnen (50% davon waren Kinder!). Auch sie fliehen vor Krieg. Andere lebten schon seit über 20 Jahren im Iran, wo sie weder Schulen besuchen dürfen noch geregelte Arbeit machen dürfen. Sie sind dort illegal und haben in Afghanistan schon längst alles verloren. Ich habe eine Kinderzeichnung bekomme auf der in Farsi steht: Ich wünschte, Iran würde keinen Krieg gegen Afghanistan führen… Sowohl im Iran als auch in den griechischen Lagern geschehen eklatante UN-Kinderrechtsverstöße*.
* Art. 22: Recht auf Schutz im Krieg und auf der Flucht,
Art. 28: Recht auf Bildung u.a.
Der EU-Türkei-Deal begünstigt syrische Staatsangehörige und was wird aus den vielen anderen Menschen!? Überhaupt, wo ist Deutschland? Ich habe in Griechenland lediglich NGO’s und griechische Behörden gesehen, die versuchen alles zu handlen.
Würde der Rest von Europa so viel leisten, wie die Griechen – wäre es zu stemmen. Aber das scheint gar nicht gewollt. Die Folge: die Flüchtlinge „versauern“ in überfüllten Lagern. Die Verschärfung der griechischen Immigrationsgesetze ist die Folge fehlender Unterstützung durch die Europäische Union. Besonders in Deutschland müssten alle Alarmglocken läuten, wenn Politiker dort von geschlossenen Lagern reden. Ich dachte immer, ich fühle mich als Europäer. Aber das ist nicht mein Europa. 2012 erhielt die Europäische Union für Menschenrechte den Friedensnobelpreis. Wo sind wir heute gelandet?
Dass die SPD momentan wieder über ein Kopftuchverbot streitet, zeigt nur wie weltfremd die Damen und Herren sind. Das ist reaktionär und dient lediglich den Rechtspopulisten.
Hochachtungsvoll
Pascal Loerch