„Europa“ setzt sich aus den griechischen Worten eurýs und óps zusammen, das heißt übersetzt „die mit der weiten Sicht“. Europa hat schon lange keine weite Sicht mehr. Ehrlich gesagt dreht sich Europa gerade vor ziemlich vielen Dingen weg. Wir gucken auf den Brexit und auf Trump, darauf dass die Deutsche Bahn sich schon wieder verspätet und der Cappuccino teurer geworden ist. Manchmal gucken wir sogar die Nachrichten. Das, was wir nicht sehen und auch nicht sehen wollen ist, was gerade an Europas Außengrenzen geschieht.
In Griechenland stecken im Moment rund 70.000 Geflüchtete fest. Viele befinden sich im Asylverfahren, das sich oft über Jahre hinzieht; die Termine für die Interviews, in denen die Menschen überhaupt erst ihren Fall der Asylbehörde vorstellen können, liegen mittlerweile zwischen 2021 und 2025. Das bedeutet, dass Menschen Jahre lang in Camps irgendwo in der griechischen Pampa ausharren müssen, ohne arbeiten oder studieren zu können, und auf einen bürokratischen Beschluss warten, der über ihr weiteres Leben entscheiden wird. Lange in Ungewissheit zu warten, keine Perspektiven und wenig Selbstbestimmtheit zu haben ist zermürbend und frustrierend. Viele der Menschen die ich in Griechenland getroffen habe sind einfach nur müde von dem Leben, was sie gerade dort führen müssen. Es ist nicht das Leben, für das sie aus ihrer Heimat geflohen sind. Sie verdienen genauso wie wir ein sicheres und würdevolles Leben.
Gleichzeitig gibt es aber auch viele engagierte und bunte NGOs, die sich solidarisch mit Menschen auf der Flucht zeigen und versuchen, etwas an der Situation in Griechenland zu verändern. Eine davon ist die Interuropean Human Aid Association (IHA) in Nordgriechenland, bei der ich für anderthalb Monate volunteer war. IHA führt ein Warehouse in Thessaloniki, in dem Sachspenden wie z.B. Kleidung sortiert, gelagert und an andere Organisationen verteilt werden. Außerdem hat IHA ein Community Centre in Lagadikia, einem kleinen Dorf, an dessen Rand ein Camp mit rund 550 Bewohner*Innen liegt. Im Community Centre gibt es einen Free Shop (dort können die Bewohner*innen mit einem Punktekontingent Lebensmittel und Hygieneprodukte einkaufen), Englisch-Unterricht und Kinderbetreuung, einen Safe Space für Frauen, Filmabende, Fußballnachmittage und Workshops. Oft saßen wir aber auch einfach abends zusammen und haben Uno gespielt und gequatscht, im Hintergrund Musik und das Klackern von Tischtennisbällen. Manchmal wurden auch Jam Sessions mit Gitarre und aus Teetassen improvisiertem Schlagzeug gestartet; oder Karaoke Abende veranstaltet, an denen alle zusammen mit Celine Dion „My Heart Will Go On“ jaulten.
Nach meiner Zeit in Thessaloniki habe ich noch einen Monat in einem Küchenprojekt nahe Athen gearbeitet. FoodKIND hat im Oinofyta Camp eine Community Kitchen gestartet und kocht täglich für eine Gruppe von über 350 unregistrierten Geflüchteten im Malakasa Camp.
Wer in Griechenland nicht als Asylsuchende*r registriert ist, bekommt in keiner Form Unterstützung durch die Regierung. Das bedeutet, dass unregistrierte Geflüchtete kein Geld durch die UNCHR-Cashcard beziehen können, kein Recht auf staatliche medizinische Hilfe und auch keinen Zugang zu offiziellen Camps haben. Deshalb müssen die Menschen in Malakasa in einem Zeltlager vor dem eigentlichen Camp leben, ohne Möglichkeiten für sich selbst zu kochen. Jeden Nachmittag fuhren wir dort in unserem Van vor und verteilten Mittagessen; fragten wie groß die Familien sind, um die Portionen einzuteilen, schaufelten mit großen Löffeln Hauptgericht und Salat in die Pfannen und Töpfe, die die Menschen mitgebracht hatten. Die Mahlzeiten hatten wir am Morgen frisch zubereitet; während in den Nachbargärten der Kleinstadt in der wir lebten griechische Opas und Omas ihren Rasen wässerten, schnippelten wir kiloweise Zucchini und Auberginen, hörten spanische Musik und rührten in den riesigen Töpfen Reis um.
Je länger ich in Griechenland war, desto trauriger und wütender wurde ich über das, was dort gerade geschieht. In der Charta der Grundrechte der EU steht: „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.„. All diese Phrasen klingen in meinen Ohren nur noch hohl und verlogen, und ich schäme mich dafür wie sich die europäischen Staaten so systematisch ihrer Verantwortung entziehen und wie die Öffentlichkeit so ungerührt wegguckt.
Denn die Situation wird nicht besser; die Zahlen der Ankünfte auf den Inseln sind die höchsten seit 2015, Camps sind hoffnungslos überfüllt, die neue rechte Regierung in Griechenland verschärft Gesetzte und spricht von einer „strengeren“ Migrationspolitik, und der Winter, der die auf der Straße und in Zeltlagern Lebenden am härtesten trifft, rückt immer näher.
Ich weiß, dass das jetzt moralisch klingt, aber ich glaube wir müssen noch einmal grundlegend darüber nachdenken, für was für ein Europa wir stehen wollen.
(Alle Informationen in diesem Text stammen aus meinen eigenen Recherchen, trotzdem will ich keinen Anspruch auf Vollständigkeit, Richtigkeit und Aktualität erheben. Der Text spiegelt keine Meinungen der genannten Organisationen wieder, sondern nur meine persönliche Meinung als Privatperson.)