„In 20 min am HQ“, weckt uns ein Anruf morgens um 04.30. Das HQ (Headquarter), ist eine Ferienwohnung in einem kleinen idyllischen Fischerdorf an der Nordküste von Lesbos, Balkonblick zur nur wenige Seemeilen entfernten türkischen Küste. Hier finden die Debriefings nach so einer Nacht, wie der im Folgenden beschriebenen, statt. Auch die Einarbeitung und Fortbildung der Freiwilligen, die für mehrere Wochen bis Monate hier auf eigene Kosten helfen, wird hier durchgeführt. An welchen Kriterien erkenne ich ein Flüchtlingsboot im Fernglas und Nachtsichtgerät? Wie die verschiedene Behörden-, Frontex- oder NATO-Boote? Wie schätze ich Entfernungen auf dem Wasser und wie manövriere ich von Land aus die Schiffscrew unseres SAR-Schnellbootes, damit diese auf dem Wasser eine sichere Landung, der über das Meer kommenden Menschen, gewährleisten kann. Wie sieht die Ersthilfe bei Unterkühlung und anderen medizinischen Notfällen aus?
Wir fahren gemeinsam mit vier anderen Volunteers ins Notfall-Camp „Stage 2“, das einige Kilometer von der Küste entfernt liegt und in das nach und nach alle neu Angekommenen vom UNHCR und der Polizei gebracht werden, um sich erst einmal von der Überfahrt auszuruhen. Unser Koordinator gibt uns eine kurze Lagebeschreibung: 1 Boot mit ca. 50 Menschen an Bord ist direkt am Leuchtturm Korakas gelandet und wurde dort von den Volunteers, die dort mit Nachtsichtgeräten in kalten 30 Minuten andauernden Schichten das Meer scannen, gleich entdeckt. Ein 2. Boot wurde von der griechischen Küstenwache „intercepted“ und wird aktuell in den Hafen des Fischerdorfes gebracht. Im Auto werden noch Aufgaben verteilt: Tee kochen, das große Zelt mit Matten auslegen, die UNHCR-Decken oder Wasser verteilen. Durchgefrorene oder durchnässte Kinder und Erwachsene bekommen möglichst schnell warme und vor allem trockene Kleidung.
Viele Menschen haben vor ihrer Ankunft auf Lesbos schon Wochen und Monate der Flucht hinter sich. Es ist nicht vorstellbar, was viele Geflüchtete bis zu diesem Punkt bereits mitgemacht haben. Die Mehrheit der Geflüchteten hier kommt aus Afghanistan und Iran, aber auch Armenien und Irak. Auch aus afrikanischen Ländern, wie Demokratische Republik Kongo und Somalia, welche über die sog. östliche Mittelmeerroute kommen.
Schnell ist alles vorbereitet, große Generatoren heizen das Zelt, der Tee und die Decken sind bereit, die am Tag gewaschenen zum Trocknen aufgehängten „recycelten“ Schuhe sind in einer Kiste verstaut. Nach und nach kommen die ersten Autos, später auch Kleinbusse vom UNHCR.
Oft warten die Menschen auf der türkischen Seite einige Tage in den Wäldern auf eine günstige Gelegenheit, haben meist zu wenig Essen und Trinken dabei. Viele sehen müde aus, aber auch erleichtert.
Es sind unglaublich viele Kinder unter ihnen und einige alte und verletzte Menschen, die auf dem Weg gestützt werden müssen.
Auch eine im neunten Monat Schwangere mit Bauchschmerzen ist darunter und mehrere Menschen leiden unter starken Schmerzen und Unterkühlung. Leider gibt es auf der ganzen Insel nur ein Krankenhaus und weniger als eine Handvoll Krankenwagen, die eine Autostunde entfernt in Mytilini stationiert sind und dementsprechend lange brauchen, bis sie überhaupt hier sein können.
In Stage 2 befindet sich ein Container mit drei Krankenliegen und einigen Medikamenten zur Notfallversorgung sowie ein Defibrillator.
In dieser Nacht bleibt es nicht bei dem einen Boot, es kommen kurz darauf noch zwei weitere an. Insgesamt haben 129 Menschen die Überfahrt von türkischer Seite an die Nordküste der Insel Lesbos geschafft. Die Hälfte davon sind Kinder unter 14 Jahren.
Einer der Container wird als Unterkunft umfunktioniert. Insgesamt verbringen 129 Menschen hier heute den Rest der Nacht. Ein herzliches Willkommen und Basisversorgung, das ist was wir tun können. Am Morgen geht es aber in jedem Fall nach Moria weiter, in das überbelegte Camp, das auch in unseren Nachrichten bekannt ist, als Symbol für Perspektivlosigkeit und der unmenschlichen Abschreckungspolitik Europas.
Hinten im großen Zelt des Notfallcamps hängen 2, mit Buntstiften gemalte Kinderbilder. Gemalt aus der Bootsperspektive, das auf einen Strand zufährt, wo viele winkende Menschen stehen. Und mir schwirrt immer noch die Schilderung eines jungen Vaters im Kopf, nach derer die Schmuggler sie mit gezogener Waffe aufgefordert hatten, sich ohne Schwimmwesten in das bereitstehende Boot zu setzen und „selbst einen Kapitän zu wählen“. Der Mann, der „als einziger wenigstens schon mal im Urlaub ein Boot gefahren ist“ bringt 50 Menschen heil durch dunkle wellige See. Ihm war die Erleichterung, dass nichts passiert ist, noch Stunden später anzumerken. Soviel Glück hatten die Menschen eine Nacht später mit immer noch 3 vermissten Frauen und einem Kleinkind leider nicht.