Dann erzählt er uns seine Geschichte…

Wir sind zurück in Kalochori, in der Nähe von dem Camp, in dem wir im Herbst halfen. Das Camp ist inzwischen geräumt und die Menschen in Wohnungen oder Hotels untergebracht, wo sie auf ihre Umsiedlung in ein anderes Land warten. Doch vorher müssen sie 3 Interviewtermine wahrnehmen, in denen sie nach allem gefragt werden – sogar, was ihr Lieblingsessen ist. Viele warten seit über einem Jahr auf die Nachricht, dass sie relocated werden. Innerhalb von einer Woche müssen sie dann meist nach Athen, von wo aus sie in ein anderes Land geschickt werden. Währenddessen warten die illegalisierten Menschen in verwitterten Ruinen auf Möglichkeiten, irgendwie weiter zu kommen. Werden sie erwischt, wird ihnen alles abgenommen und sie werden zurück geschickt. Bei den Räumungen der Spots, an denen sich die obdachlosen Flüchtenden sammeln, werden auch viele verhaftet.

Ein Flüchtender zeigt uns Bilder aus dem Winter, als noch viele Menschen in Camps untergebracht waren. Eine 10cm dicke Schneedecke liegt auf den Zelten, die teilweise draußen stehen und kaum wasserdicht sind. Dann erzählt er uns seine Geschichte. Der IS hat 2014 sein gesamtes Dorf gefangen genommen. Er sah, wie Babys, Mütter, Schwangere und Alte ermordet wurden. Er war sich sicher, er würde auch sterben. Tagelang haben die Gefangenen nur eine Scheibe Brot am Tag und ein Glas Wasser zu essen und trinken bekommen. Als ich frage, ob sie ihm weh getan hatten, antwortete er nur: „Oh ja.“ Der IS erzählte seiner Freundin, er sei tot. Doch er floh, versteckte sich tagelang in einem Hühnerstall, wanderte ohne Nahrung oder Wasser durch verlassenes Gebirge, bis er schließlich die Grenze erreichte. Doch seine Freundin hat inzwischen geheiratet und es nach Deutschland geschafft. Kurz danach starben seine Eltern. Um seinen Vater vor dem Krebs zu retten und sich die Chemotherapie leisten zu können, verkaufte er all sein Hab und Gut. So verlor er alles, was er hatte. Mit einem angedeuteten Schmunzeln zeigt er auf seine seit der Gefangenschaft dünnen Arme und meint: „Sogar die Muskeln nahmen sie mir“. Trotzdem lacht er viel und wirkt glücklich. Ich frage ihn, ob er seine Geschichte manchmal vergessen kann. Er verneint es. Nach all dem, was er erlebt hat, glaub er auch nicht mehr an Gott. Aber er ist stark, sagt er. Heute ist er selbst Freiwilliger, übersetzt und organisiert Geburtstagspartys für Kinder auf der Flucht. Doch auch er wartet seit über einem Jahr auf seine Relocation. Bald hat er seinen letzten Interviewtermin, bei dem er erfahren wird, in welches Land er geschickt wird.