Ein Fernglas, Zwei Lichter, Drei müde Augenpaare

Trotz der vielen Schichten ist es immer noch kalt. Ich sitze hinten im Van auf gestapelten Kartons mit Decken und warmen Klamotten darin, halte dampfenden Chai in meinen Händen und nur mühsam meine Augen offen. Inzwischen ist es schon fast wieder hell und statt dem prasselnden Regen zieht jetzt Schnee beinahe horizontal am Fenster vorbei. Wir sind zu dritt: Ich und zwei Volunteers des NO-BORDER-SQUATS übernehmen heute die Nachtschicht. Das heißt: Von Null bis Acht Uhr morgens die Küste beobachten, um ankommende Boote „in Empfang zu nehmen“ und mit dem Nötigsten zu versorgen.

Unser Standpunkt ist zwar nicht der, wo die Entfernung zur Türkei am geringsten ist, trotzdem kommen auch hier Boote an.

Nicht nur wir stehen an der Küste bereit, sondern noch drei weitere Teams darunter eine NGO mit ausgebildeten Seenotretter*innen und Feuerwehrleuten halten Wache. Obwohl Niemand in meiner Gesellschaft bisher eine Ankunft miterleben musste, wissen sie genau bescheid was in einem solchen Fall zu tun ist und ich bekomme eine Einweisung am Anfang. „Das wichtigste: keine Panik,“ sagt Marvin, „und auf jeden Fall auf alle achten, auch auf die jungen Männer, die bei der Erstversorgung häufig eher weniger beachtet werden“. Nachdem eine*r der Helfenden das Boot an Land gezogen hat, wird eine Gasse gebildet, ggf. beim Ausziehen der nassen Klamotten geholfen oder Gehhilfe geleistet. Tee und trockene Kleidung, sowie die nötigste medizinische Versorgung werden bereitgestellt und ich lerne, wie man einem Menschen am effektivsten eine Notfall-Wärmedecke anlegt. Kurz nachdem die Flüchtenden das Land erreichen, werden Beamte der griechischen Polizei kommen und sie nach MORIA bringen damit sie dort sofort registriert werden. Ich nicke und bin ein bisschen aufgeregt.

Am Anfang der Nachtschicht kann ich auch ohne Fernglas deutlich die FRONTEX-Schiffe erkennen, die an der Türkisch-Europäischen Grenze hin und her fahren und genau wie wir nach schreienden Menschen und Händylichtern Ausschau halten. Nur die Motivation ist eine andere und ich versuche mir vorzustellen, was sie wohl während ihrer Arbeit denken und reden. Tagsüber liegen diese Schiffe ganz normal im Hafen von Mytilini.

Von dem Strand, an welchem wir Wache halten, bis zur türkischen Grenze sind es 12 Kilometer. Das ist zwar nicht die kürzeste Strecke, aber dadurch, dass den Schlauchbooten jegliche Möglichkeit der Navigation fehlt und sie in der Türkei von verschiedenen Punkten starten, variiert die Route jedes Mal. Solch ein Boot fährt die Strecke durchschnittlich in zwei bis vier Stunden. Die Schmuggler schicken die Boote mitten in der Nacht los, denn dann ist es dunkel und die Flüchtenden sind für die türkische Küstenwache am schwersten zu entdecken. Als Licht dienen nur mehrere Handtaschenlampen, welcher Gefahr und Unsicherheit die Menschen dann jedoch ausgesetzt sind, kann man sich vorstellen. Wenn alles gut geht, stranden die Boote auf Lesvos in den frühen Morgenstunden. Doch was heißt das schon…? Oft sind sie einfach unfassbar froh endlich Europa erreicht zu haben, denn in dem Augenblick glauben viele, ihr Ziel erreicht zu haben. Andere Helfende  berichten von komplett durchnässter Kleidung, heilloser Erschöpfung oder Menschen, die das Ufer nicht lebend erreichen, da sie von der Masse auf dem engen Raum totgetrampelt wurden.

Die Windschutzscheibe ist direkt auf’s Meer gerichtet. Trotzdem ist es schwierig hier etwas zu erkennen.

Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass heute Nacht etwas passiert. Trotzdem beziehen wir den Posten. Draußen rüttelt der Sturm am Auto und der Regen schlägt bald in Nebel um, dass man wirklich gar nichts mehr sieht. Meine Gedanken werden begleitet von der Hoffnung, dass heute kein Boot mehr das Land verlässt und mir wird bewusst, dass wenn es doch eines wagen sollte, es sicher nicht unversehrt hier ankommt. Als gegen fünf Uhr morgens, der Regen schlagartig aufhört, die Wellen abflachen und wir tatsächlich wieder klare Sicht haben kribbeln meine Füße vor Aufregung und Bange. Wie gut dass wir hier sind, denke ich.