Nada wurde eines Nachts inmitten des Krieges geboren. Zozan gebar ihr Kind notgedrungen mit Hilfe einer Freundin zuhause, denn das Krankenhaus in Aleppo gab es längst nicht mehr. Genau wie die Schule, und unzählige Heimaten wurde es von Bomben zerstört. Bei Nadas Geburt konnte sein Vater nicht anwesend sein, denn dieser musste mit ein paar anderen Männern in eine andere Stadt fahren, um für die ganze Familie Brot zu besorgen. Im ganzen Ort gab es keines mehr.
Wenige Monate später zog die Familie weg aus Aleppo, zu den Großeltern in ein kurdisches Dorf, wo der Krieg ein Stückchen weniger zu spüren war. Ohne den Vater. Der machte sich auf nach Europa, um Sicherheit und Frieden zu suchen. Er kam bis nach Deutschland, fand eine Wohnung, einen Job und fing an sich in Düsseldorf weit möglichst zu Integrieren um bald seine Familie nachholen zu können. Ein Hoffnungsschimmer, bis die Behörden bemerkten, dass seine Fingerabdrücke als erstes in Italien aufgenommen wurden. Laut Dublin Gesetze musste der Geflüchtete also zum ersten Registrierungsort zurück. Wo er sich jetzt aufhält, wo er lebt und was er macht, wusste die Familie bis vor zwei Wochen nicht. Jetzt haben sie wieder Kontakt über’s Telefon, doch das ist nur ein winziger Trost dafür, dass Zozan ihren Mann und die Kinder ihren Vater seit 1 1/2 Jahren nicht mehr gesehen hat. Als sie uns ein Foto von ihm zeigt, legen sich tausend Schatten auf ihr Gesicht. Sie wissen nur, er ist wieder auf dem Weg nach Deutschland.
Zwei Jahre nach dem Aufbruch ihres Mannes machte sich auch Zozan zusammen mit ihren vier Kindern auf den Weg. Drei Anläufe hatte es gebraucht um überhaupt erst aus Syrien rauszukommen und in die Türkei zu fliehen. „Zuerst haben sie mich schlagen wollen, weil sie dachten ich sei ein Junge – wir mussten wieder zurück.“ Sie, das sind die türkischen Grenzschutzsoldaten. Simaf hält sich zwei Finger an den Kopf: Beim zweiten Versuch wurde dem Mädchen mit Schüssen gedroht, würde die Familie das Land nicht sofort wieder verlassen. Drei Mal mussten sie den Schleppern viel Geld bezahlen.
Von der Türkei aus, über das Mittelmeer sollte es mit einem Boot weitergehen. Wieder vier Anläufe, wieder viel Schmiergeld. Zweimal kenterte das mit Menschen viel zu überladene Schiff, einmal kam die Grenzschutzpolizei, 10 Minuten vor dem Ziel und brachte die Flüchtenden zurück in die Türkei.
Simaf macht eine Pause, auch Zozan sitzt wieder mit im Zelt und schenkt uns noch mehr von dem extrem süßen Schwarztee nach. Wir sitzen auf dem Boden eines Zeltes in KALOCHORI, essen geröstetes Pitabrot mit selbstgemachtem Joghurt und trinken Chai. Meine Stimme klang ganz zögerlich, als ich sie fragte, wie sie nach Griechenland gekommen sind, doch die 15 jährige Simaf erzählt uns in gutem Englisch, wie sie schließlich irgendwo an einer Küste das Festland erreichten. Bis nach IDOMENI waren es 10 Stunden Fußweg, doch den fünf blieb schließlich nichts anderes übrig.
Simaf ist Zozans älteste Tochter. Ihre Schwestern sind drei und sechs Jahre jünger. Nada ist jetzt vier Jahre alt.
In IDOMENI verbrachte die Familie ganze fünf Monate. „Das Lager war riesig. Zu viele Menschen. Alle sind arm und in der Nacht gab es regelmäßig gewalttätige Streits zwischen Flüchtenden.“ Ich frage mich ständig aufs neue, warum die Menschen den Krieg nicht zuhause lassen. Warum sie ihn in die Lager mitnehmen, auf ihrer Reise tragen um ihn an anderen Orten wieder einpflanzen. Vielleicht ist am Ende der Krieg einfach in ihnen und vielleicht ist auch das eine Art damit fertig zu werden.
In KALOCHORI ist es zwar sicherer als IDOMENI, doch trotzdem lässt die Mutter ihre Mädchen nur ungern alleine im Camp rumlaufen. Vor allem nicht nachts, denn dann hört man manchmal Schreie und Wutausbrüche durch die dünnen Zeltwände in der ganzen Halle. Trotzdem ist hier vieles besser. Nur das Warten frisst sie auf. Ihr erstes Interview hatten sie schon und haben sich entschieden in Griechenland zu bleiben. Sie wollen endlich Sicherheit haben. Ein Zuhause aufbauen. Raus aus den Camps und den Kindern ein Leben ermöglichen. Für einen weiteren langen Weg haben sie alle keine Kraft mehr. Griechenland ist zwar nicht ihre Wunschlösung, und ihren Ehemann sieht Zozan dann wahrscheinlich auch so bald nicht wieder, doch noch haben haben sie die Hoffnung umzuziehen, wenn sie erst einmal europäische Pässe haben. Wann sie ihren zweiten Interviewtermin haben und schließlich in eine Wohnung umziehen dürfen steht aber noch in den Sternen. Auf meine Frage, wie lange sie wahrscheinlich noch hier bleiben werden, antwortet die 15 jährige schulterzuckend: „Zwei Jahre“, ein Scherz?
Sie will später einmal Bauingenieurin für Flugzeuge werden. Hört auf ihrem Handy Musik von Justin Bieber, Adele und One Direction – ganz normal eigentlich. Ihre Schwester Mishlin zeigt mir auf dem Smartphone Bilder von einem Ausflug mit allen aus dem Camp nach Thessaloniki in ein Museum und danach ins Planetarium. Ihre Augen leuchten, sie möchte einmal Entdeckerin werden.
Nach der Geschichte liegt schweres Schweigen im Zelt. In diesem Moment glaube ich, spüren wir alle die gleiche Wortgewaltigkeit in unseren Köpfen. Am meisten berührt mich allerdings ihr Lächeln, als sie uns noch mehr Trauben und Zigaretten anbietet. Wie schaffen es Menschen so unglaublich stark zu sein? Und das ist nur eine Geschichte von vielen. Wenn ich überlege, dass wahrscheinlich in jedem der Zelte, in jedem der Camps ähnliche Worte in den Köpfen von ähnlich tollen Menschen schlummern, möchte ich sie am liebsten alle in meine Taschen stecken, ihnen zuflüstern, dass alles gut wird, sie in Sicherheit sind und sie mit zurück nach Deutschland nehmen. Doch das wäre eine Lüge.