Es ist 9:00 morgens, als die Fähre nach 12 Stunden Fahrt endlich den Hafen von Mytilini erreicht. Neugierig und ein wenig müde schaue ich mich um. Eine hübsche, recht touristische, kleine griechische Hafenstadt – ganz normal eigentlich. Doch was habe ich erwartet? Im Oktober, zu der Zeit als wir in Thessaloniki gearbeitet haben, sind monatlich noch knapp 3.000 Menschen auftun griechischen Inseln angekommen (Quelle: UNHCR*). Jetzt ist es kälter, das Wetter wird schlechter, doch die Boote stranden immer noch. 698 Flüchtende erreichten die Inseln allein seit Beginn dieses Jahres (Quelle: UNHCR, Stand 17.01.2017). Dadurch lässt sich erahnen, dass sie Situation hier nochmal komplett andere Eindrücke birgt, als die der Camps in Nordgriechenland. Die Menschen die in durchnässten Klamotten aus den kleinen Schlauchbooten steigen und dann in Lagern und Squats auf ihre Interviews warten befinden sich in einem ganz anderen Abschnitt ihrer Flucht. Ein weiter Weg liegt vor ihnen. Um mehr darüber herauszufinden fahre ich für ein paar Tage an eine der äußersten EU-Gebiete und finde tatsächlich recht bald PIKPA, ein Lager etwas außerhalb von Mytilini. Ich laufe auf ein großzügiges Grundstück im Wald zu, das Tor steht wir offen und da es nicht vom Militär kontrolliert wird kann ich einfach eintreten. Die Atmosphäre ist komplett anders, als ich sie aus KALOCHORI und den Militär-Lagern in Thessaloniki kenne. Es ist viel ruhiger und kleiner, denn hier leben nur ca. 80 bis 100 Menschen und momentan etwa 25 Kinder in kleinen Holzhütten oder großen soliden UNHCR-Zelten. Es gibt einen Fußball- und einen Spielplatz, einen Gemeinschaftsraum mit einer Küche für alle, in dem Mittags für Volunteers und Flüchtende warmes Essen ausgeteilt wird, richtige Toiletten (zwar auch draußen, aber mit fließendem Wasser), ein beheiztes Büro und Waschmaschinen Außerdem einen Aufenthaltsraum für Workshops (z.B. Basteln, Malen, Musik-sessions, Yoga u.a.), Filme und einen „Kindergarten“ der täglich von Volunteers organisiert wird. In zwei der Gebäude ist sogar ein kleiner Free-shop eingerichtet, aus dem sich die Bewohner*innen Kleidung aussuchen können, wann immer sie etwas brauchen und eine Art „Supermarkt“/Lebensmittelausgabe, mit geregelten Öffnungszeiten. Das hier vergleichsweise so gute Bedingungen für die Menschen herrschen, fasziniert und verwundert mich zugleich, wo doch die Medien ganz andere Bilder von Lesvos zeigen. Später erfahre ich, dass PIKPA vor allem ein Zufluchtsort für Familien und Menschen mit Benachteiligungen ist. Wer aus den anderen Lagern hierher ziehen darf wird vom einem Vorstand entschieden.
Einen Tag später werde ich von ein paar Helfenden zur NO-BORDER-KITCHEN, einer selbstorganisierten Küche hauptsächlich für obdachlose Flüchtende, mitgenommen und erfahre das „Kontrastprogramm“. Tatsächlich ist die Küche nur ein Teil eines großen Gebäude-Komplexes aus alten, teilweise zerfallenen Lagerhallen, die erst seit kurzem von Flüchtenden als „Unterschlupf“ genutzt werden. Hier schlafen junge Männer aus Pakistan, Afghanistan, Algerien und Syrien in kleinen Campingzelten oder einfach mit Matratzen und Decken nebeneinander auf dem Boden.
Im „Social-Center“ (dem zentralsten der Gebäude mit einer großen Küche) wird gerade Essen ausgeteilt. Es ist laut, bewegt, lebhaft. Menschen schreien durcheinander, singen und begrüßen uns herzlich. Auch Frauen und Kinder kommen von benachbarten Camps um hier eine warme Malzeit zu bekommen. Die Volunteers, die hier helfen die Situation zu verbessern, schlafen genau wie die Flüchtenden verteilt in den Hallen. Gegen die Kälte gibt es Decken, sogar einige Öfen und zusätzlich wird Lagerfeuer gemacht. Dadurch liegt in den Hallen ein stetiger Geruch nach Qualm in der Luft. Gegen die Dunkelheit helfen Handytaschenlampen und in einer der Hallen hängt mittig ein einzelner, grell leuchtender Bauscheinwerfer. Darunter auf einem Mehlverschmierten Tisch und einem großen Gaskocher werden köstliche Chapatis zubereitet.
So gerne ich glauben würde, dass hier alles ganz harmonisch und unproblematisch funktioniert, höre ich doch mehrere Geschichten von Wutausbrüchen, gewalttätigen Kämpfen, Diskriminierung und vor allem Diebstählen innerhalb der Community. „Es ist nicht sicher hier, “ erzählt Mohammed*, ein junger Mann aus Afghanistan am Essenstisch, „Ich traue den allen schon lange nicht mehr!“
Die meisten der hier lebenden waren vorher in MORIA einem Military-Camp im Norden von Mytilini. Hier werden alle Menschen her gebracht, direkt nachdem sie an den Küsten ankommen um dort registriert zu werden, Asyl zu beantragen und dann auf ihre Interviews zu warten. Ein Riesenlager. Zurzeit leben hier ca. 3500 Menschen (Stand Dezember), obwohl die Kapazitäten nur für ca. 2500 Flüchtende ausgelegt sind.
Die Umstände lassen sich erahnen: Isoboxen sind rahr, deshalb leben fast
alle draußen in Zelten, die auch bei minus-Graden nicht beheizt werden. Bei dem Versuch es doch zu tun, sind im November sogar zwei Menschen bei einer Explosion ums Leben gekommen (siehe: https://legalcentrelesbos.wordpress.com/2016/11/26/right-to-life-in-danger-for-asylum-seekers-in-moria/). Da es keine Kochmöglichkeiten in den Zelten gibt, wird von NGOs oder selbstorganisierten Gruppen Essen ausgeteilt. Viele der hier tätigen können den Menschen nur von außerhalb des Camps helfen, da der Zugang stark vom Militär kontrolliert wird. MORIAs Hauptorganisation, die Verteilung von Kleidung, Decken, u.a. und Aktivitäten für Kinder übernimmt die NGO „EuroRelief“.
Auch hier sind, anders als in KALOCHORI, nicht nur Menschen aus Syrien. Schließlich steigen auch Afghan*innen, Iraker*innen und Afrikaner*innen in die Schlauchboote Ein paar von ihnen werden hin und wieder mit Fähren und Marineschiffen nach Athen gebracht, in andere Lager, um dort ihre Interviews zu führen bzw. weiter darauf zu warten.
Der große Unterschied ist: Von einer Insel weg zu kommen, ist nur m it dem Schiff oder einem Flugzeug möglich. Das Wasser kesselt sie ein.
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* Siehe Dokument: „Nationality of arrivals to Greece Italy and Spain – Monthly – Jan to Nov 2016“ PDF
**Veränderte Namen
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Zum Weiterlesen, Kontakt aufnehmen oder Support der Küche: https://noborderkitchenlesvos.noblogs.org/
https://www.facebook.com/NBKLesvos/?fref=ts
Über PIKPA:
http://www.lesvossolidarity.org/index.php/en/