In den Gängen zwischen den Zeltwänden, zwischen Pfützen und stinkenden Dixi-Klos, hört und sieht man überall Kinder. Die meisten sind – und tragen Klamotten, die dünner sind als sie sein sollten. Es wird gerauft, geschrien, Fangen gespielt und sich geärgert. Sie bringen so viel Freude und Energie in das Lagerleben. Wenn eine von uns durchs Camp läuft, dauert es meist nicht lang, bis sich eine kleine Hand in deine schiebt, du von unten groß und auffordernd angeschaut wirst, mit in die Höhe gestreckten Armen. Dass man eigentlich gerade arbeiten muss, wird nicht im geringsten beachtet. In KALOCHORI gibt es ca. so viele Kinder wie Erwachsene, die unter 15 Jahre alt sind. Während viele Erwachsene an ihre Grenzen gekommen sind, versuchen die Kinder dagegen alle Grenzen zu überschreiten die man ihnen stellt. An unserem ersten Tag warnte uns Diane noch, wir sollten bloß nichts aufbauen, was nicht fest geschraubt ist, weil die Kinder es sonst zerstören würden. Wir lachten, doch nach spätestens einer Woche hatten auch wir begriffen, mit was für kreativen Rabauken wir es hier zu tun haben.
Diese extrem zutraulichen Menschen, erleben ständig einen Wechsel an Volunteers, was bleibt ihnen da anderes übrig, als auszutesten wo die Grenzen sind und so schnell wie möglich so viel wie möglich Aufmerksamkeit zu erlangen, wie nur geht? Ein „It’s not funny anymore!“ unsererseits hilft wenig und nicht immer. Wir brauchen viel Geduld im Umgang mit ihnen, doch lernen wir auch die Energie dieser Kinder sehr zu schätzen. Mit unglaublich offenen Gesichtern kommen sie auf uns zu und wollen überall mithelfen und alles anfassen.
Aus Zeltstangen bauen sie sich Sattelstangen, für ihre viel zu kleinen Fahrräder und aus Styropor-Thermoboxen werden Schlitten und Aquarien für selbstgefangene Fische gebastelt. Sie sind Kinder und denken wie alle Kinder nicht viel über Schwierigkeiten nach, sondern finden Mittel und Wege sich das Leben aufregend zu gestalten.
Wir lernten mit der Zeit den Kindern zu vertrauen, sie zu verstehen und auf einer Ebene mit ihnen zu kommunizieren. Die wildesten Kinder saßen an Tagen, die mit einem Chaos in der Schule begannen später friedlich nebeneinander in der Bibliothek, zeigten sich Bilder und ließen sich von uns vorlesen. Sie liebten es zu lesen und sich Bilder in Büchern anzugucken und wir liebten es ihnen dabei zuzuschauen, wie sie komplett in die Welten von „Winnie-Pooh“ oder der „Eiskönigin“ eintauchten. Wir wurden gebeten vorzulesen und dabei ging es nicht um die Sprachen, denn den Kindern war es egal, ob wir deutsch- oder englischsprachige Bücher vorlasen, ihnen ging es offenbar einfach um das gemeinsame Lesen.
Fast jeden Tag spielte ich mit den Kindern Backgammon, ein Brettspiel. Wenn ich mit dem Brett unter dem Arm durch das Lager lief scharrte sich schnell eine Gruppe von Kindern um mich, großteils Jungs im Alter von ca. 10 Jahren, die dann Stunden mit dem Spiel verbringen und in hitzige Diskussionen ausbrechen konnten. Irgendwann gaben wir das Brettspiel auch ohne Aufsicht an die Kinder und waren nicht mal besonders überrascht, dass, als wir das Brett ein paar Stunden später wieder einschließen wollten, alle Spielsteine und Würfel noch da waren.
Auch die Eltern berührten uns sehr. Wir erlebten eine Geburt mit, Väter die uns stolz von ihren Neugeborenen erzählten, viele werdende Mütter und eine Frau, die schon fast einen Monat über dem eigentlichen Geburtstermin hinaus ist und hochschwanger durchs Campleben humpelt. Wenn wir sie darauf ansprechen, erstaunte und fragende Gesichter machen, schüttelt sie nur den Kopf. Das Kind wolle nicht in KALOCHORI zur Welt kommen, nicht in dieses Leben eintreten müssen, sagt sie. Wir treffen Eltern, die stark sein müssen, ohne irgendwo Energie schöpfen zu können. Eltern, die kaum etwas anderes im Kopf haben, als ihre Kinder und deren Schutz vor Kälte und Grausamkeit, den sie ihnen nicht genügend geben können. Viele der Syrer*innen waren ausgebildete Schneider- und Näher*innen bevor der Krieg begann. Viele Frauen können Stricken. Zwar stehen Nähmaschinen und Stricknadeln zur Verfügung, die Material-Ressourcen sind allerdings knapp und so musste man mal wieder kreativ werden: Hosen und Pullover werden aus Karo-Decken genäht und mit den Volunteers wurde um jedes Wollknäuel, jede Milch diskutiert.
Auch Abud* sagt, es ginge ihm vor allem um seine Söhne, die hier aufwachsen. Er beschreibt mir die fünfjährigen Kinder in Bochum als gesund, groß, stark und sauber und zeigt dann auf seine Söhne: Dünn und die Gesichter von Müdigkeit durchzogen. Bei dem Lärm im Lager und dem vielen Zigarettenrauch schlafen die meisten Kinder kaum oder schlecht und haben Lungenprobleme. “ Ich würde ein Messer nehmen und mich an beiden Seiten aufschneiden, um dort meine Söhne zu verstecken und sie durch die Kontrollen am Flughafen schleusen“. Abud* sagt es und meint es ernst.
Nach den Erlebnissen von Krieg, ca. zwei Jahren Flucht und dann auf unbestimmte Zeit in einer Welt leben, in der es sich schlecht schlafen lässt, es an Bildung mangelt und in der nichts sicher scheint, wünschen sich die meisten einfach ein Zuhause. Ein Zuhause und vor allem Sicherheit für die Kinder.
Ab und zu kommen Volunteers mit einer Musikbox, machen sie laut an und spielen Lieder wie den „Macarena“ oder „Aramsamsam“. Dann kommen viele Kinder sofort angerannt und auch wenn sie gerade erst laufen gelernt haben, tanzen sie mit den Volunteers gemeinsam die dazugehörigen Tänze. Uns wird dabei erschreckend bewusst, dass all diese kleinen Menschen die Tänze schon aus Idomenie kennen, dass manche von ihnen ihr halbes Leben auf der Flucht verbracht haben.
Es ist eine ganze Generation, die in dieser Welt aufwächst. Was wird aus ihr, wenn all das irgendwann, irgendwie vorbei ist?
+++++
*Name geändert